Dem Netzwerk X wurden ein paar Fragen zur Entwicklung der Kulturlandschaft gestellt. Stefan Schroer und Joscha Hendricksen haben dazu ein paar Antworten geschrieben.
Die Besetzung von Gebäuden im Jahr 2010 durch KünstlerInnen in Essen (Freiraum2010) und in Dortmund (UZDO) machten deutlich, dass 2010 auch eine Dynamik in Antagonismus zur staatsfinanzierten, alles vereinnahmenden Kulturhauptstadt entfaltete. Was ist davon geblieben? Und ist das NetzwerkX ebenfalls als Reaktion auf 2010 zu verstehen? Oder war sie zumindest der Anlass?
S. Schroer:
Zwischen freier künstlerischer und/oder soziokultureller Arbeit und staatsfinanzierter Kultur besteht aus unserer Sicht prinzipiell gar kein Antagonismus. Die Frage ist schlicht, welche Kultur staatlich finanziert (also politisch gewollt, gefördert) wird und welche nicht. Also z.B. sog. Leuchtturm-Events und das Dortmunder U ja, dagegen werden ein avanciertes freies Theater und ein Off-Kulturraum im Kulturhauptstadtjahr zwar als Keimzellen eines Kreativquartiers geadelt, sie aber zugleich zu kreativwirtschaftlichen Unternehmen ernannt, die sich „am freien Markt“ behaupten sollen. So ein Quatsch produzierte den Widerstreit.
Es fand weniger Vereinnahmung statt als Ausgrenzung durch bewusste Nichtbeachtung. Die von soziokulturellen Zentren und freien Initiativen der Region getragene Kampagne „Kulturhauptstadt braucht Teilhabe“ forderte ja explizit programmatische Berücksichtigung und inhaltliche Aufnahme des im Ruhrgebiet kulturell bereits Bestehenden und sich hier lebendig Entwickelnden, auch seine Stärkung. Die Kampagne erklärte bereits 2009 ihr Scheitern. Das Netzwerk X gründete sich im Jahr nach 2010, und natürlich auch auf Basis der im Kulturhauptstadtjahr gemachten Erfahrungen. Wie sehr unsere Erfahrungen vergleichbare waren, erfuhren wir explizit erst auf dem Gründungstreffen des Netzwerks.
J. Hendricksen:
Es gibt ein Leben vor und nach dem Logo Kulturhauptstadt. Die Gründung des Netzwerk X 2011 ging aus der Erfahrung hervor, dass es bei den PlanerInnen der Kulturhauptstadt und ihrer Nachfolgeorganisationen an Expertise mangelt. Experimentelle, transformatorische, anarchische und politische Praxen wurden und werden nicht als Basis jener Prozesse verstanden, die sich die Kulturhauptstadt mit dem Slogan „Kultur durch Wandel – Wandel durch Kultur“ auf die Broschüren geschrieben hat. Die Strategie der Kulturhauptstadt und ihrer Nachfolgeorganisationen ist kein von kulturpolitischen Analysen und in Kooperation mit den Handelnden vor Ort entwickeltes, planerisches Handeln, sondern ein pragmatischer Kompromiss, dessen beste Seite jene Slogans sind, die uns weiter die Möglichkeit geben, Kritik zu üben. Die Beziehung zwischen den Handelnden und den Logo-ProduzentInnen bleibt aber eine Antagonistische. Seit 2011 gab es im Ruhrgebiet 10 weitere Hausbesetzungen und gibt es neben dem Netzwerk X nun auch ein „Recht auf Stadt“-Netzwerk.
Wie seht ihr denn seit der Gründung 2011 die Kultur der Region? Aktiver, vernetzter, selbstbewusster, sichtbarer? Oder kaum Veränderungen zu damals? Was ist aus Eurer Sicht denn von 2010 geblieben?
J. Hendricksen:
Wir sehen keine große Veränderung. Die Logo-Produzenten und Institutionen üben sich teilweise in einem zeitgenössischeren Auftritt: Die Ruhrtriennale bespielt Schaufenster, und Urbane Künste Ruhr kokettiert mit widerspenstigen KünstlerInnen. ECCE und seine Medien-Blase labkultur.tv haben ja von Anfang an post-moderne, „hybride“ Kulturkonzepte vorgeschoben. Für eine moderne, d.h. selbst-kritische Praxis mit Bezug auf denkende Menschen fehlt es an Partner*innen. Mittlerweile ist ECCE als Förderbuddy in den Kreativquartieren jedoch ein okayer Partner.
Die Kultur der Region ist ansonsten ärmer denn je. In vielen Städten gibt es keine Projektförderung und in anderen herrscht Haushaltssperre. Diejenigen, die nicht staatsfinanziert sind, müssen einen Eventbetrieb fahren, und die Aneignung und Nutzung leerstehender Räume und brachliegender Flächen ist für die Ruhrgebietspolitik nur denkbar, wenn am Ende ein Logo drauf und alles unter Kontrolle ist. Eigeninitiative muss erstmal abgesegnet und die Branding-Gewinne vom Stadt- und Regionalmarketing eingestrichen werden. Eine gute Art, im Ruhrgebiet Kulturwirtschaft zu betreiben, ist Kulturförderung zu machen und sich dafür fördern zu lassen. Kurz gesagt: Die Logo-Produzenten und Institutionen helfen sich selbst, statt den Menschen und der Region.
Eine Kritik war ja, die Kultur bei RUHR.2010 und vor allem in den Folgeprojekten diene lediglich als Werkzeug zur Wirtschaftsförderung. Seht ihr das Thema „Kreativwirtschaft“ heute gelassener, weil die Befürchtung der bloßen Instrumentalisierung von Künstlern ausgeblieben ist und sowieso nur funktioniert, wenn die auch mitmachen? Anders gefragt: Förderung von Kultur und Kreativwirtschaft von Oben – ist das gelungen, kann das gelingen?
J. Hendricksen:
Die Kritik war und ist, dass Kreativwirtschaft einfach eine Falsch-Bezeichnung für künstlerische und soziale Praxen ist. Es ist ja spezifisch das nicht-ökonomische, was diese Handelnden in eine besondere Beziehung zu Staat und Gesellschaft bringt. Je länger wir drauf geschaut haben, desto eher offenbarte sich das mit der sogenannten „Kreativwirtschaft“ eben als eine aus fördertechnischen Gründen gewählte Falsch-Bezeichnung. ECCE macht am Ende Kulturförderung. Da freuen wir uns zu einem Teil ja auch drüber, aber es bestätigt andererseits, dass die Architektur von Ruhr.2010 und die anschließende „Nachhaltigkeitsarchitektur“ Baulücken aufweist. Auf diesen gedanklichen Freiraum haben wir bei der RVR Kulturkonferenz 2013 hingewiesen, bei der uns bestätigt wurde, dass für an der Schnittstelle von Kunst und sozialem Raum arbeitende, lokal verankerte und regional arbeitende und vernetzte Initiativen, denen das Netzwerk X eine Stimme geben will, keiner zuständig ist. Das ließe sich immer noch ändern.
Stefan Schroer:
Das Experiment einer nachhaltigen Förderung von Basiskultur steht ja noch aus. Angesichts desolater kommunaler Haushaltslagen und weil auch wir das Ruhrgebiet als eine Einheit sehen, fordern wir deren Förderung ja ebenfalls „von oben“, also aus dem 4,8 Millionen Euro starken RVR-/Landesetat zur sogenannten RUHR.2010-Nachhaltigkeit. Und dass im aktuellen Stadium der kapitalistischen Regulation hierzulande eigentlich alles Wirtschaftsförderung sein muss, steht einem solchen Experiment nicht einmal entgegen. Aktuell wird intensiv eine neue Imagekampagne für das Ruhrgebiet gefordert, nicht zuletzt von der hier ansässigen Wirtschaftslobby. Die Kampagne solle authentisch sein, orientiert am Berliner „arm aber live-strip-sex sexy“-Slogan. Sehr peinlich für die Logoisten der kulturell attraktiven „Metropole Ruhr“ und auch für die zig lokalen Hochglanzbroschüren-Photoshoper. Unser Vorschlag ist einfach: Gebt in den nächsten fünf Jahren mal die Hälfte des Etats von Urbane Künste Ruhr und ECCE in einen Fördertopf für im Ruhrgebiet aktive, lokal bis regional und zum Teil ja auch selbständig national bis international vernetzte Initiativen, lasst jenen Topf maßgeblich von diesen Initiativen selbst verwalten und erlaubt, aus dem bereitgestellten Etat auch strukturelle und investive – also nicht auf immer nur ein Projekt bezogene, sondern die alltäglichen Arbeiten befördernde, unterstützende, neue ermöglichende – Maßnahmen zu bestreiten. Wir sind überzeugt davon, dass die reale Basis für eine „arm aber sexy“-Kampagne damit (bzgl. ihres zweiten Attributs) entstünde, sichtbar würde, sich selbst kommunizierte und die Kampagne überflüssig machte. Also ja: Es kann gelingen. Es müsste nur versucht werden und vorher: gewollt.
Mein Eindruck: Es hat sich einiges sehr zaghaft in Richtung besser verändert: In Städten wird das Thema Kultur mit den Verantwortlichen weniger paternalistisch diskutiert (und öfter), es gibt viele neue Netzwerke und auch die Förderung für Kulturprojekte ist umfangreicher geworden. Auch die Neugier aufs Ruhrgebiet jenseits von einst Industrie und heute Fußball hat zugenommen. Wie nehmt ihr das wahr?
J. Hendricksen:
Erstens: Die Kulturförderung nimmt nicht zu, sondern kontinuierlich ab. Zweitens: Wenn das Thema Kultur vor Ruhr.2010 noch paternalistischer und seltener diskutiert wurde, dann ist das schade. Kultur von ihren sozialen und theoretischen Voraussetzungen abzuschneiden und zu einem urbanen Projekt zu machen, zersetzt allerdings die Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens, und dies ist Alltag. Drittens: Mehr Denkmaltourismus zu erwirken, ist der große Erfolg von Ruhr.2010. Die Grundlage dieses Erfolgs ist eine kapitalistische Landnahme an der blutigen Geschichte der Industriearbeit im Ruhrgebiet. Anders gesagt: mit dem Slogan „Schaut die Schindmühlen der Stahlproduktion“, wären wir näher am Realen und weiter vom Marketing. Ein bisschen Schwund ist immer.